Selbstversorgung in der Zukunft
9,5 Milliarden Menschen werden laut Hochrechnungen der UNO 2050 auf der Erde leben. 70 Prozent davon dürften in so genannten «Mega-Cities» wohnen. Wie diese Metropolen künftig zur Lebensmittelproduktion beitragen können, erklärt Daphne Keilmann-Gondhalekar.
Interview — Helen Weiss
Dr. Daphne Keilmann-Gondhalekar
Stadtplanerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Siedlungswasserwirtschaft der Technischen Universität München. Sie leitet u.a. das Urban Water-Energy-Food Nexus Lab Nexus@TUM.
«VIELLEICHT SIND APFELBÄUME EINES TAGES WICHTIGER ALS AUTOS»
Die Weltbevölkerung wächst, die Böden laugen aus. Künftig sollen Lebensmittel auch in Städten produziert werden. Kann das überhaupt funktionieren?
Ja, wobei das eher eine Frage des Wollens als des Könnens ist. Die Möglichkeiten bestehen durchaus, wie eine 2017 von der Technischen Universität München durchgeführte Studie beweist. Würden auf allen Dächern Münchens Salate und Kräuter kultiviert, an den südwestlichen Fassaden Trauben gepflanzt und auf allen freien Flächen besonders ertragreicher Weisskohl und nahrhafte Äpfel angebaut, könnte mit der Ernte ein Grossteil des jährlichen Bedarfs gedeckt werden. Das ist natürlich ein sehr abstraktes Ergebnis, denn wahrscheinlich wollen die meisten Städterinnen nicht jeden Tag Weisskohl essen. Zudem werden freie Flächen anderweitig genutzt, etwa als Erholungsräume oder Parkplätze. Trotzdem zeigt es, dass es ein signifikantes Potenzial gibt. Es ist deshalb auch eine Frage der Relevanz: Vielleicht sind Apfelbäume eines Tages wichtiger als Autos.
Weltweit wird an alternativer Landwirtschaft getüftelt, etwa mit Vertical Farming. Wie sieht die urbane Nahrungsmittelproduktion der Zukunft aus?
Eins steht fest: In den Städten hat es noch viel Platz für urbanen Gartenbau. Heute wird erst ein Bruchteil der Dächer verwendet – sei es zur Nahrungsmittelproduktion oder Gewinnung von Solarkraft und Regenwasser. Auch hier stellt sich die Frage, was einträglicher ist. Dank moderner Systeme lassen sich mittels Vertical Farming auf wenig Platz viel Gemüse und Obst produzieren – auch ohne Erde und Sonnenlicht.
Das verursacht jedoch wiederum einen hohen Energieverschleiss. Führt das nicht erneut in eine Sackgasse?
Nicht zwingend. Solche Systeme müssen in jedem Kontext differenziert betrachtet werden. Es gilt zu untersuchen, ob der Energiebedarf im Vertical Farming tatsächlich höher ist, als wenn dieselbe Menge an Lebensmitteln importiert wird. Ein gutes Beispiel sind Äpfel: Früchte aus heimischem Anbau müssen bis zum Frühjahr gekühlt gelagert werden. Das verhagelt ihnen die Klimabilanz, denn ihr CO2-Abdruck ist dadurch ebenso gross, wie der jener von Äpfeln aus Übersee. Das tönt verrückt, zeigt aber auch, dass es sich lohnt, individuelle Lösungen für verschiedene Städte zu suchen.
Sättigende Lebensmittel wie Getreide wachsen nur auf dem Feld. Gibt es Ansätze, mit Urban Farming mehr zur Ernährung beitragen zu können?
Es macht keinen Sinn, Getreide auf kleinen Flächen anzubauen, da für eine lohnende Bewirtschaftung grosse Maschinen benötigt werden. Aber es gibt andere Nahrungsmittel, die in Zukunft eine grössere Rolle spielen werden, etwa proteinreiche Lebensmittel aus dem 3D-Drucker, wie das heute in Singapur bereits erforscht wird. Eine wichtige und interessante Proteinquelle sind nach wie vor Insekten, aber in der westlichen Welt will leider noch niemand Käfer oder Heuschrecken essen. Das könnte sich jedoch ändern, Insekten sind angeblich sehr gesund und lecker.
INFO
MIKROALGEN: FLEISCHERSATZ AUS AQUAKULTUR?
Algen lassen sich aufgrund ihrer Grösse in Makroalgen und Mikroalgen einteilen. Letztere sind mikroskopisch klein, oftmals nur einzellig. Im Gegensatz zu Makro-
algen, die Blätter oder andere pflanzliche Strukturen bilden, sind einzelne Mikroalgen von blossem Auge nicht sichtbar. Doch sie haben es in sich: Mikroalgen haben etwa den gleich hohen Proteingehalt wie Sojabohnen, daneben enthalten sie Vitamine, Spurenelemente und ungesättigte Fettsäuren. Und sie lassen sich fast überall in Pools, Bioreaktoren und Aquakulturen züchten.
Der Nährwert-Ertrag pro Fläche ist schon heute fünf- bis zehnmal grösser als mit herkömmlicher Landwirtschaft. Mikroalgen könnten daher eines Tages einen grossen Teil des menschlichen Proteinbedarfs decken.
Inwiefern wird die Lebensmittelproduktion in den Städten unsere Essgewohnheiten verändern?
Es geht vielleicht gar nicht so sehr darum, was wir essen, sondern wie wir die Lebensmittel beschaffen. Wahrscheinlich werden wir in Zukunft lieber mit unserem Nachbarn eine selbstgezogene Tomate gegen eine Gurke tauschen, statt fünf Franken dafür im Supermarkt zu bezahlen. Das würde auch unser gesellschaftliches Leben ungemein aufwerten. Sicher werden wir wieder vermehrt saisonale und regionale Nahrungsmittel essen.
Könnten Hausbesitzerinnen und Hausbesitzer dank eigener Energie- und Lebensmittelproduktion in und auf ihren Immobilien künftig teilautark leben?
Ja, durchaus, vor allem wenn sie aus Gründen der Effizienz und Rentabilität zusammenspannen. Je nachdem, wieviel Fläche zur Verfügung steht, können sich Hausbesitzerinnen und Hausbesitzer wahrscheinlich zu einem grossen Teil selbst versorgen.
Heute besteht der typische Hausgarten hauptsächlich aus Rasenflächen, die enorm viel Wasser benötigen. Würde man darauf Gemüse und Obst anbauen, wäre nicht nur die Selbstversorgung abgedeckt, sondern man könnte gleichzeitig die Biodiversität fördern.
Nicht zuletzt aufgrund des Klimawandels könnte Wasser in weiteren Teilen der Welt zur Mangelware werden – wie können Städte künftig Wasser gewinnen?
Ganz einfach durch die Gewinnung des Regenwassers. Die heutige Situation ist eine unheimliche Verschwendung, denn wir könnten es relativ einfach vor Ort sammeln, aufbereiten und nutzen. Und das nicht nur für die Toilettenspülung. Dass wir dazu noch immer Trinkwasser verwenden, ist heute auch aus ethischer Sicht sehr fragwürdig. Mit dem Sonnenlicht haben wir übrigens eine weitere wichtige Ressource in den Städten, die bisher noch kaum genutzt wird. Gleichzeitig sind auch wir Menschen eine enorme Energiequelle: Unsere Ausscheidungen können aufbereitet und als organischer Dünger oder durch die Co-Vergärung mit organischem Abfall zur Herstellung von Biogas verwendet werden. Für die Zukunft gilt es, in den Städten mit den Ressourcen, die bereits vor Ort verfügbar sind, einen eigenen Kreislauf herzustellen, ähnlich wie wir ihn aus der Natur kennen.
INFO
SELBSTVERSORGENDE DÖRFER UND STÄDTE
ReGen (für regenerativ) ist ein High-Tech-Konzept, durch das Dörfer und Quartiere in der Nahrungsmittel-, Wasser- und Energieversorgung sowie in der Abfallentsorgung autark werden – und gleichzeitig das Zusammenleben stärkt sowie die Lebensqualität verbessert. Visionär, Gründer und Ideengeber von ReGen Village ist der amerikanische Forscher James Ehrlich, mittlerweile beteiligen sich mehrere Universitäten und Thinktanks am Projekt. Erste Pilot-Dörfer sind in Dänemark und den Niederlanden geplant, sie sollen in den nächsten Jahren entstehen. www.regenvillages.com