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Soziale Entwicklung

Die Bevölkerung wird älter, das Zusammenleben diverser. Welche sozialen Entwicklungen erwarten uns – und welche Folgen haben sie? Mit solchen Fragen befasst sich Dr. Jakub Samochowiec* vom Gottlieb-Duttweiler-Institut.

Interview — Tanja Seufert

*Dr. Jakub Samochowiec
ist leitender Forscher und Speaker am Gottlieb Duttweiler Institut. Der promovierte Sozialpsychologe analysiert gesellschaftliche, wirtschaftliche und technologische Veränderungen mit den Schwerpunkten Entscheidung, Alter, Medien und Konsum.

«DER NÄCHSTEN GENERATION GEHT ES NICHT MEHR AUTOMATISCH BESSER»


Aufgrund der alternden Bevölkerung wird die finanzielle Last für die junge Generation höher. Welche Auswirkungen hat dies auf den «Generationenvertrag»?
Eine alternde Gesellschaft bedarf politischer Anpassungen, wie auch immer diese konkret aussehen. Tut man nichts, belastet die Alterung junge, arbeitstätige Menschen zunehmend mehr. Über diese Anpassungen bestimmen jedoch die älteren Menschen selbst, da sie sich bei fast allen Urnengängen durchsetzen – aufgrund ihrer Zahl, aber auch einfach, weil sie eher abstimmen gehen. Jüngere Menschen können sich doppelt benachteiligt fühlen. Sie müssen immer mehr bezahlen und werden regelmässig überstimmt. Um dem entgegenzuwirken, werden verschiedene Lösungen diskutiert: etwa das Stimmrechtsalter auf 16 zu senken, niedergelassene Ausländerinnen und Ausländer früher in politische Prozesse einzubeziehen oder Eltern pro Kind eine Extra-Stimme zu geben. Solche Initiativen haben zum Ziel, die Interessen der jüngeren Generation zu berücksichtigen. 

Wie sieht die demografische Entwicklung in der Schweiz aus, welche Szenarien gibt es für die nächsten Jahrzehnte?
Würde ab sofort niemand mehr einwandern, gäbe es im Jahr 2030 etwa 200'000 weniger Erwerbstätige als heute, während die Zahl der Pensionäre steigt. Entscheidend sind also die Einwanderungszahlen. Das Bundesamt für Statistik rechnet damit, dass (hauptsächlich) aufgrund dieser bis 2030 etwa 200'000 mehr Menschen im Arbeitsmarkt sein werden, als es heute der Fall ist - so zumindest im sogenannten Referenzszenario. Einwanderung ist schlussendlich aber eine politische Frage. Und auch hier sind ältere Menschen eher gegen Einwanderung als jüngere. So waren ältere Menschen eher für die Initiative «Gegen Masseneinwanderung» und haben jüngere, die mehrheitlich dagegen waren, überstimmt.

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NEUE SCHULE: MEHR LEISTUNG – WENIGER STRESS UND FRUST

Die Schule der Zukunft ist geprägt von künstlicher Intelligenz. Ein Ansatz dazu nennt sich «Lernen – individuell – digital – adaptiv» (LIDA). Laut Prognosen der Universität Freiburg soll LIDA sich bereits 2040 an den meisten staatlichen Schulen durchgesetzt haben. Das neue Lernangebot knüpft an das individuelle Vorwissen und Können der Schülerinnen und Schüler an. Die künstliche Intelligenz (KI) ermöglicht den Einzelnen ein auf sie massgeschneidertes Lernprogramm an. Es zeichnet sich durch einen stetig wiederholenden Ablauf aus Diagnose, Input, Übung und Evaluation aus und passt sich dem individuellen Kompetenzstand und dem Lerntempo an. Lernen soll dadurch nicht nur wesentlich effektiver, sondern auch entspannter und befriedigender werden.

Angenommen, die Bevölkerung wächst nicht weiter, sondern schrumpft:  Welche Herausforderungen werden daraus entstehen?
Das kommt darauf an, ob es möglich ist, die schwindende Bevölkerung mit steigender wirtschaftlicher Produktivität zu kompensieren – zumindest, solange wir unser Wachstumsmodell beibehalten wollen. Ist dieser Produktivitätszuwachs nicht möglich, droht ein Kollaps der Wirtschaft, da diese auf ewiges Wachstum ausgelegt ist. Unter anderem die Pensionskassen, welche Wachstum benötigen, um die Renten für all die älteren Menschen zu erwirtschaften. Glaubt man dem Wirtschaftsprofessor und Buchautor Matthias Binswanger, ist unsere Wirtschaft «zum Wachstum verurteilt».

Welche sozialen Themen werden uns in Zukunft am meisten beschäftigen?
Nicht nur die Abstimmungen werden immer «alterslastiger» entschieden, wie bereits erwähnt – auch der Ressourcenverbrauch wird die kommende Generation stark beschäftigen. Die zuvor erwähnten Pensionskassen werden bei stockendem Wachstum und immer älterer Bevölkerung zunehmend Schwierigkeiten haben, genügend Rendite zu erwirtschaften. Dabei auch noch ökologische Kriterien zu berücksichtigen, läuft dieser Bemühung zuwider. Das bietet Konfliktpotenzial. Der Mangel an Wohnraum und die Konzentration von Vermögen – ebenfalls zum Nachteil jüngerer Leute – werden ein grosses Thema sein. Bei knapperem Wohnraum steigt der Druck auf ältere Menschen, die tendenziell über mehr Wohnfläche verfügen. 70 % des Volksvermögens liegt zudem bei Menschen im Pensionsalter, welche auch die meisten Erbschaften erhalten – natürlich sehr ungleich verteilt. Hinzu kommt der institutionelle Kontext: Die ältere Generation besetzt viele wichtige Schlüsselpositionen in Unternehmen, Politik und Wissenschaft. Oft wird heute bemängelt, dass keine grossen Würfe mehr gemacht werden. Das liegt auch daran, dass man – ausser im Softwarebereich – unter 50 Jahren gar keine Schlüsselposition innehaben kann. Heute muss man sich oft jahrzehntelang beweisen, das kann ein Innovationshemmnis sein. Es ist nicht unbedingt gut, wenn man die eigene Karriere lange durch eine Institution treiben muss, denn danach hält man lieber am Status Quo fest als Neues zu wagen. Denn dieser Status Quo bestätigt auch den eigenen Status. Das war früher anders: Man denke zum Beispiel an den Eisenbahnpionier und Industriellen Alfred Escher. Mit gerade einmal 35 Jahren gründete er das Polytechnikum (heute ETH). Das wäre heute unvorstellbar.

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SOZIALE ROBOTER

Soziale Roboter sind bereits im Einsatz und werden stetig weiterentwickelt. Sie sind darauf programmiert, mit Menschen zu interagieren, Emotionen zu erkennen und als sozialer Begleiter zu dienen. Der Roboter «Paro» hat die Form eines Robbenbabys und wird als therapeutisches Hilfsmittel eingesetzt. Die Idee basiert auf den Erfahrungen der tiergestützten Therapie und wurde in Japan entwickelt. Er wird unter anderem in Institutionen für Menschen mit Demenz eingesetzt.

Auch die Familienmodelle und die Schule haben sich in den letzten Jahren stark gewandelt. Wird dieser Trend anhalten?
Die Diversifizierung der Familie hält an; der Trend zur Individualisierung findet seit Jahrzehnten statt. Man wird nicht mehr in eine bestimmte Biografie hineingeboren. Was die Schule betrifft, so haben wir dazu eine Studie zum Thema «Was müssen Kinder in Zukunft können?» gemacht. Wir erwarten, dass die Zukunft ungewisser wird – es wird nicht linear weitergehen. Die Pandemie, die Klimakrise und der Ukraine-Krieg sind Beispiele für radikale Änderungen, die in immer kürzeren Abständen eintreten. Kinder brauchen vermehrt die Fähigkeit, selbstbestimmt Entscheidungen zu treffen. Sie können sich weniger als bisherige Generationen auf Traditionen und vergangene Erfahrungen verlassen. Um Entscheidungsfähigkeit zu entwickeln, bräuchten sie allerdings mehr Freiraum. Das Gegenteil passiert zurzeit: Die Freizeit von Kindern wird immer mehr verplant, ihr Freiraum wird kleiner. Mit Handys wird auch die Langweile ausgerottet, welche womöglich zum Erkunden der Freiräume nötig wäre.

Ehe und Kirche verlieren an Bedeutung. Worin könnten künftige Generationen Halt finden?
Die Sinnfrage muss nicht über Traditionen und Religion erfasst werden. So hat auch der Kapitalismus im zweiten Teil des 20. Jahrhunderts ein Heilsversprechen in sich getragen: Wenn du fleissig bist, wird es dir besser gehen. Diese Erzählung vermag jedoch zunehmend weniger zu überzeugen. Zumindest glauben erstmals seit dem zweiten Weltkrieg Menschen nicht mehr daran, dass es ihren Kindern quasi automatisch besser gehen wird, als ihnen selbst. Ich denke, die künftigen Generationen werden ihren Halt darin finden, dass sie die Welt verbessern können, sei dies ökologisch, politisch oder sozial. Das werden aber eher Unternehmungen sein, die gesellschaftliche Ziele beinhalten und nicht einfach die Nutzenmaximierung von Individuen als Grundlage haben. Das wird aber nicht nur jungen Menschen vorbehalten sein.