Digitale Welt
Ob einkaufen, Freunde treffen oder an einer Sitzung teilnehmen: Wir erledigen immer mehr von zuhause aus. Die eigenen vier Wände werden dadurch immer wichtiger. Autor und Zukunftsbotschafter Jörg Eugster sagt uns, welche Trends für ihn zukunftsträchtig sind.
Interview — Raphael Hegglin
*Jörg Eugster
ist Digital-Pionier, Buchautor, Referent und Zukunftsbotschafter. Als einer der ersten Schweizer Internet-Unternehmer beschäftigt er sich seit 1998 professionell mit dem World Wide Web und hat mehrere Plattformen zum Erfolg geführt.
«DAS HAUS WIRD SCHNITTSTELLE ZUR DIGITALEN WELT»
Reisen wir gedanklich 30 Jahre in die Zukunft: Wie werden die Menschen Ihrer Meinung nach leben? Zum Beispiel so wie im Film «Surrogates», wo sie nur noch mittels Avatare am Alltag teilnehmen und kaum mehr einen Fuss vor die Tür setzen?
Wir sind und bleiben menschliche Wesen mit Bedürfnissen wie soziale Kontakte, Bewegung, frische Luft und Sonnenlicht. Und ich glaube nicht, dass sich die Menschheit diesbezüglich radikal ändern wird – jedenfalls nicht innert Jahrzehnten. Klar: Die zu erwartenden technischen Errungenschaften sind gewaltig. Doch entscheidend ist nicht nur, was technisch machbar ist, sondern auch, was der tatsächliche Nutzen davon ist. Avatare eignen sich für viele Situationen, aber längst nicht für alle. Ich sehe zum Beispiel keinen Vorteil darin, ein Geschäftsmeeting in einer virtuellen Welt mit Avataren abzuhalten. In der Arbeitswelt wird man sich auch in Zukunft sehen wollen, wissen, mit wem man es zu tun hat. Ausserdem sind Videokonferenzen unkomplizierter und effizienter. Natürlich wird sich deren Qualität weiter verbessern und es werden neue Features dazukommen.
Avatare sind also eher etwas für den Freizeitspass?
Sie eignen sich für viel mehr. Wo immer das Erleben, visuelles Erfassen oder Emotionen im Vordergrund stehen, spricht alles für Avatare oder besser gesagt für eine virtuelle 3-D-Welt, ein Metaverse. In dieser Welt können wir Situationen realitätsnah erleben, die uns sonst verwehrt bleiben. Zum Beispiel ein Besuch auf dem Mars, Zukunftsvisionen oder längst vergangene, geschichtliche Ereignisse. Die virtuelle Welt wird die reale also eher ergänzen und bereichern und nicht ersetzen. So werden wir Menschen uns zu hybriden Wesen entwickeln, die in zwei Welten verkehren, wie zum Beispiel im Science-Fiction-Film «Ready Player One». Die neuen Erfahrungen aus der zweiten, der virtuellen Welt dienen dann längst nicht nur dem Spass. Sie werden die Arbeitswelt prägen, nur schon, weil damit Simulationen und Tests möglich werden, die heute undenkbar sind.
INFO
BRAIN-COMPUTER-INTERFACE: TELEPATHIE WIRD MÖGLICH
Eine neuronale Schnittstelle verbindet das menschliche Gehirn mit einer Maschine, einem Computer oder dem Internet. Was nach Science-Fiction klingt, ist teilweise schon Realität: 1999 gelang es, dass ein Tetraplegiker mittels Brain-Computer-Interface (BCI) seine Hände wieder bewegen konnte, 2018 erfolgte die erste Kommunikation zwischen zwei Menschen über eine aktive BCI. Die Ideen gehen nun so weit, dass ein implantiertes BCI den Zugang zum Internet ermöglichen soll und dass sich damit Bilder und andere Sinneswahrnehmungen im Hirn erzeugen lassen. VR-Brillen, Bildschirme, Tastaturen und Sprachassistenzen werden dadurch überflüssig: Die Kommunikation findet direkt im Hirn statt.
Ein völliger Rückzug in die eigenen vier Wände ist also nicht zu erwarten.
Nein, das glaube ich nicht. Wobei diesbezüglich jedes Individuum verschieden ist. Es gibt Menschen, die benötigen zahlreiche soziale Kontakte und häufige Interaktion mit der Aussenwelt, um glücklich zu sein. Anderen, den Introvertierten, kommt die virtuelle Welt entgegen. Sie befreit sie vom sozialen Druck. Wieviel Zeit jemand in der realen Welt verbringen wird und wie viele in der virtuellen, hängt also unter anderem vom Charakter ab. Ganz entziehen wird man sich keiner von beiden können. Wer in Zukunft am Leben teilhaben möchte, muss sich in beiden Welten zurechtfinden.
Wo wird sich die reale Welt am stärksten in die virtuelle verschieben?
Neben Kunst und Freizeit besteht zum Beispiel im Trainingsbereich riesiges Potenzial. Schon heute trainieren Piloten oder Chauffeure regelmässig mit Simulatoren – die heute verwendeten werden uns bald altbacken erscheinen. Denn in einer virtuellen, dreidimensionalen Welt lässt sich viel realitätsnaher und individualisierter trainieren sowie allgemein lernen. Ich kann mir daher vorstellen, dass Schule, Ausbildungen und Trainings künftig zu grossen Teilen im virtuellen Raum stattfinden. Wie auch Shopping: Schon heute hat sich ein beträchtlicher Anteil der Ladengeschäfte ins Internet verschoben.
INFO
SMART GLASS: DAS FENSTER WIRD ZUM BILDSCHIRM
Auch in Zukunft werden Häuser Fenster haben. Doch warum die Glasfläche nicht für weitere Funktionen nutzen? Smart Glass, intelligentes Glas, verwandelt ein Fenster auf Knopfdruck in einen Touchscreen. Heute gibt es bereits Prototypen, die das Fernsehprogramm wiedergeben sowie Informationen und Bilder einblenden. Mit dem digitalen System des Hauses vernetzt, könnten sie dereinst jede Art von Bildschirm überfüssig machen. Denn: Warum zusätzliche Geräte aufstellen, wenn diese schon in Form von Fenstern vorhanden sind? Smart Glass lässt sich zudem auf Wunsch auf verschiedene Arten abdunkeln, es sieht dann zum Beispiel aus wie Milchglas oder getönte Auto-Scheiben. Das schützt gleichermassen vor zu intensivem Licht und vor unerwünschten Blicken.
Wir werden also bald nur noch im Internet einkaufen?
Nicht im Internet, in einer virtuellen Welt. Internetshops sind immer noch an traditionelle Geschäfte angelehnt – ihr Sortiment beruht auf der Auswahl der Betreiber. Die Zukunft stelle ich mir ganz anders vor: Suche ich in der virtuellen Welt ein Produkt, wird für mich sofort ein spezialisiertes Ladengeschäft mit allen im Markt verfügbaren Modellen zusammengestellt. Ich muss also nicht von Shop zu Shop ziehen, um verschiedene Modelle zu suchen und vergleichen zu können. Alles ist auf einen Schlag da, ich kann es mir dreidimensional – realitätsnah – anschauen und mich von einem Avatar umfassend beraten lassen. Auch lassen sich Animationen, Tutorials und Tests zu den einzelnen Produkten einblenden. So bekomme ich sofort umfassende Marktübersicht und kann das für mich am besten passende finden.
Die virtuelle Welt ist heute an VR-Brillen gebunden. Mit ihnen können wir bereits Erstaunliches erleben. Doch sie sind sperrig, und ihre Bilder überzeugen nicht immer ...
Solche Brillen sind erst ein Anfang. Schon heute gibt es Prototypen wesentlich kompakterer Modelle. Doch ob wir dereinst überhaupt noch in Bildschirme schauen, ist für mich ohnehin fraglich. Man forscht seit Jahren an der Bildprojektion auf die Netzhaut und ist schon weit damit. Diese Technologie lässt sich zum Beispiel in ein leichtes Tragsystem, ähnlich einem Brillengestell, integrieren – ist also kaum mehr spürbar. Zudem lassen sich mittels Netzhautprojektion Bilder erzeugen, die vollkommen dreidimensional wirken. Ich glaube, dieser Zugang ins World Wide Web wird dereinst das Smartphone überflüssig machen. Als weitere Schnittstelle zur virtuellen Welt sind Häuser interessant. Sie werden künftig mit einem interaktiven, vollvernetzten System ausgestattet sein. Die gesamte Gebäudetechnik wie auch die Unterhaltungselektronik und sämtliche Kommunikationsmittel lassen sich dann über einen Sprachassistenten bedienen. In Zukunft werden wir unserem Haus also einfach sagen, was wir wünschen, und müssen die Befehle nicht mittels Knöpfen, Schaltern oder über eine App eingeben. In dem Moment, wo wir etwas benötigen, sagen wir es unserem Haus einfach.