Urbanisierung in der Zukunft
Künftig sollen in der Schweiz 10 Millionen Menschen wohnen – wie lassen sich Zersiedelung, Gentrifizierung und Verkehrskollaps bei diesem Szenario vermeiden? Zu diesem Thema forscht Raumentwicklungs-Wissenschaftlerin und Stadtökonomin Sibylle Wälty von der ETH Zürich.
Interview — Helen Weiss
Dr. Sibylle Wälty
ist leitende Forscherin am ETH Wohnforum – ETH CASE (Centre for Research on Architecture, Society & Built Environment) und Dozentin an der ETH Zürich.
«EIN DRITTEL DER BEVÖLKERUNG KÖNNTE IN 10-MINUTEN-NACHBARSCHAFTEN LEBEN»
Das urbane Gebiet wächst, längst lebt die Mehrheit der Schweiz städtisch. Das Landleben ist nüchtern betrachtet eher Wunschvorstellung – oder?
Städtisch bedeutet, dass in einem Radius von 500 Meter mindestens 15'000 Personen wohnen und arbeiten, idealerweise mindestens 10'000 Einwohnerinnen und Einwohner sowie 5000 Vollbeschäftigte. Nur gerade 5 Prozent der Schweizer Bevölkerung wohnen so. Die meisten leben aber bereits heute schon urban, also in Städten und in der Agglomeration, die diese Schwellenwerte allerdings nicht erreichen. Dann gibt es noch den suburbanen und ländlichen Raum, doch wer dort lebt, ist vielfach in den anderen Räumen unterwegs – etwa, um zu arbeiten oder um einzukaufen. Man wohnt zwar «auf dem Land», lebt aber ein urbanes Leben.
Wie ist es dazu gekommen?
Weil es das ursprüngliche Dorf, wie es vor der Motorisierung bestand, nicht mehr gibt. Früher gab man sich mit dem lokalen Detailhandel und der Dorfbeiz zufrieden, auch haben viele im Dorf gearbeitet. Mit dem Auto ist der Bewegungsradius viel grösser geworden, allerdings mit den uns bekannten Schattenseiten: unter anderem eine Zersiedelung der Landschaft, volle Züge und Staus. Um dem entgegenzuwirken, braucht es in Zukunft an geeigneten Orten mehr Verdichtung.
Verdichtung, das klingt nach Dichtestress und Anonymität. Lässt sich denn das «Dörfliche» in der Stadt von morgen aufrechterhalten?
Ja. Ich forsche an sogenannten 10-Minuten-Nachbarschaften, die innerhalb von 10 Minuten Gehdistanz alles haben, was man im Alltag braucht: zum Beispiel vielfältige Einkaufsmöglichkeiten, Kinderbetreuung, Schulen, Restaurants, Bibliotheken und vieles andere, ein lebenswertes Quartier bzw. «Dorf» also. Basis ist ein 500-Meter-Radius, das sind etwa 78 Hektaren. Auf dieser Fläche braucht es eine gewisse Anzahl Menschen, die dort wohnen und arbeiten – wie eingangs erwähnt etwa 15'000 Personen – damit Angebote wie Restaurants oder Läden überhaupt existieren können. Zum Vergleich: Die wohndichteste Gegend in der Schweiz ist in Genf, wo über 20'000 Menschen auf 78 Hektaren wohnen, in Barcelona sind es sogar über 50'000 auf dieser Fläche – ohne Verlust an Lebensqualität notabene.
INFO
IN JAPAN BAUT TOYOTA EIN «STADTLABOR»
Seit März 2021 baut der japanische Autohersteller Toyota die «Woven City». Das 75 Hektar umfassende Areal in Susono, am Fusse des Fuji-Vulkans, soll als Testlabor für die Stadt der Zukunft dienen. Vor allem sollen hier neue Mobilitätskonzepte wie autonomes Fahren getestet werden, aber auch die Alltagstauglichkeit von Robotern, künstlicher Intelligenz und Smart Homes. Woven City soll sich ständig weiterentwickeln, erste Pilot-Experimente sind zwischen 2024 und 2025 geplant. Bis zu 3000 Menschen sollen dereinst in diesem «Stadtlabor» leben und zukunftsträchtige Technologien unter Alltagsbedingungen testen.
Was ist mit dem Dichtestress?
Zuerst muss man erkennen, was Stress auslöst. An einer zu kleinen Wohnfläche kann es nicht liegen, die Pro-Kopf-Fläche hat sich in den letzten Jahrzehnten fast verdoppelt. Was hingegen stresst, sind die vollgestopften Züge und der Stau auf den Strassen. Deshalb sind mehr Möglichkeiten für kürzere Wegdistanzen von der Wohnadresse zur Arbeit und zum Alltagsleben oder auch zur Freizeitgestaltung so wichtig. Und ist das Auto weniger häufig nötig, nimmt der Autoverkehr ab. Bei einer 10-Millionen-Schweiz mit 10-Minuten-Nachbarschaften könnte sich dieser sogar halbieren. Als Beispiel einer 10-Minuten-Nachbarschaft nenne ich gerne das sehr beliebte Zürcher Quartier rund um den Brupbacherplatz mit 16'000 Einwohnerinnen und Einwohnern sowie 10'000 Vollbeschäftigten in einem 500-Meter-Radius.
Dafür sind die Mieten in diesem Quartier sehr hoch. Wird sich das Problem der Gentrifizierung in Zukunft zuspitzen oder gibt es wirksame Strategien dagegen?
Der Brupbacherplatz liegt an der ehemaligen Westtangente. Als sie geschlossen wurde, verteuerten sich die Wohnungen. Es ist eben eine Tatsache: Jede gesperrte Strasse, jeder gepflanzte Baum macht einen Ort attraktiver und damit auch teurer – ausser man fügt Wohnraum hinzu. Die Preise würden dann automatisch sinken. Es wird in Städten viel abgerissen und neu gebaut, doch es wäre es wichtig, dass in diesen Neubauten doppelt bis dreifach so vielen Menschen wie bisher wohnen können. Mehr Wohnraum an zentralen Lagen ist unter anderem eine der wirksamsten Massnahmen gegen steigende Preise.
Sie sagten, heute würden nur 5 Prozent der Schweizer Bevölkerung in optimal verdichteten Nachbarschaften wohnen. Wie könnte sich das künftig verändern?
Bei einer 10-Millionen-Schweiz, auf die wir ja hinsteuern, könnte theoretisch ein Drittel der Bevölkerung in einer 10-Minuten-Nachbarschaft leben. Doch dafür müsste man zügig das Raumplanungsgesetz in den Raumplänen vollziehen, so dass man zum Beispiel in Städten höher bauen dürfte. Das müssen nicht à priori Hochhäuser sein, nur schon eine Aufstockung auf sechs bis acht Geschosse brächte eine spürbare Entlastung im Wohnungsmarkt. Dieser Sprung wurde noch nicht gemacht, obwohl wir schon heute an einem kritischen Punkt sind, was den Verkehr und die Zersiedelung betrifft, ganz zu schweigen von den immer höheren Wohnkosten. Wenn man überall immer mehr Leute ansiedelt, ohne an den Raumplänen etwas zu ändern, gibt es noch mehr Autos auf den Strassen und noch vollere Züge: der vorprogrammierter Verkehrskollaps, trotz Ausbau der Verkehrsinfrastruktur.
Man darf nicht vergessen: Der zu Fuss gehende Mensch ist der einzige Verkehrsträger mit positivem Nutzen. Er verbraucht vergleichsweise kaum Ressourcen und verursacht kaum Emissionen, gesund ist es auch noch. Und genau in dieses «Verkehrsmittel» sollte man investieren, indem die Raumplanung an geeigneten Orten hinreichende Dichten zulässt, damit dort Netzwerke von 10-Minuten-Nachbarschaften entstehen können. Als positiven Nebeneffekt mehr Platz für jene, die auch künftig Auto fahren müssen – oder wollen.
INFO
KOLLABORATIVE STADT: LEBEN WIE IM DORF VOR 100 JAHREN
Städtischer Raum wird aufgrund des Bevölkerungswachstums immer teurer. Geleichzeitig soll die Stadt der Zukunft wieder mehr Lebensqualität – sprich Ruhe, frische Luft und Erholungsraum – bieten. Diese zwei gegensätzlichen Trends lassen sich nur verbinden, wenn Stadtbewohner in Zukunft mehr zusammenspannen und Materielles gemeinsam nutzen. Teilen, Tauschen und Partizipieren sind daher Eigenschaften, die immer wichtiger werden: Carsharing-Modelle, gemeinsame Gärten und Coworking-Spaces sind Konzepte, die es auf bezahlbare Weise ermöglichen, mehr Raum für grüne Oasen und menschenfreundlichere Strassenbilder zu schaffen. Menschen im urbanen Raum werden zudem zu aktiven Stadtgestaltern und gewinnen mehr Selbstbestimmung.