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Neue Wohnformen

Lebensentwürfe werden vielfältiger, Menschen älter, Häuser smarter. Der Siedlungsdruck steigt, der Flächenbedarf aber auch. Welche Antworten haben Wohnforscher auf die Herausforderungen von morgen? Detlef Gürtler* vom Gottlieb-Duttweiler-Institut wagt einen Blick in die Zukunft.

Interview — Tanja Seufert

Detlef Gürtler
Der Politik- und Wirtschaftswissenschaftler und Publizist Detlef Gürtler ist leitender Forscher am Gottlieb-Duttweiler-Institut (GDI). Er analysiert gesellschaftliche Veränderungen mit den Schwerpunkten Arbeitswelt, Wohnformen, Volks- und Finanzwirtschaft.

«IN DEN NÄCHSTEN 20 JAHREN FINDET EINE FLÄCHENTRANSFORMATION STATT»


Baufläche ist knapp, gleichzeitig wächst die Bevölkerung weiter. Werden wir in Zukunft alle auf engstem Raum zusammengepfercht leben müssen?
Ganz so schlimm wird es nicht. Es gibt jedoch zwei Punkte,die künftig grosse Änderungen bringen werden: zum einen das Klimathema, das Auswirkungen auf die Baugesetze und auf das Verhalten der Einzelnen haben wird. Zum andern die so- genannte Flächentransformation. Wir haben zwei grosse  Flächenreservoirs – Büro und Handel –, die im Prinzip in Wohnflächen umgewandelt werden könnten. Auf der einen Seite haben wir zwei Flächenformen, die rückläufig sind: die Handels- und Büroflächen – man denke an die Schliessung von Warenhäusern wie Manor und Jelmoli an der Zürcher Bahnhofstrasse. Auch sinkt der Bedarf an Büroflächen aufgrund von Homeoffice. Auf der anderen Seite hat der Bedarf an Wohnfläche zugenommen. Viele Menschen arbeiten heute teilweise von zuhause und brauchen ein Arbeitszimmer. Wir sehen also derzeit massive Änderungen, wie Menschen Flächen nutzen.


Wie lässt sich diese Transformation umsetzen?
Damit sind oft grössere Umbauten verbunden, denn Büro- und Handelsflächenflächen lassen sich selten 1:1 für Wohnraum übernehmen. Die Flächentransformation findet im Moment weniger über Arealumnutzungen im grossen Stil statt, sondern eher im kleinräumigen Umbau. So ziehen statt Läden zum Beispiel Arztpraxen, die bisher in den oberen Stockwerken eingemietet waren, ins Erdgeschoss einer Liegenschaft. Damit werden Flächen für Wohnraum frei. Herausfordernder ist es, zum Beispiel einen Supermarkt oder eine Autogarage in Wohnraum umzubauen. Doch ich bin überzeugt: Künftig werden ganze Gewerbeareale in Wohngebiete umgewandelt. Erste Pioniere geben zentrale städtische Standorte bereits auf, zum Beispiel die Deutsche Bank in Frankfurt. Dies ermöglicht eine Arealentwicklung mit viel neuem Wohnraum. Diese Transformation wird zu einer flächendeckenden Bewegung, die innert 20 Jahren abgeschlossen sein wird.

INFO

DIE HOCHSCHULE LUZERN FORSCHT AN NEUEN SMART-HOME-FUNKTIONEN

Active Assisted Living (AAL) hilft älteren Menschen, länger selbstbestimmt zuhause wohnen zu können – mit unterstützenden Technologien, die für Sicherheit und Wohlbefinden sorgen. Gemeinsam mit Partnern aus ganz Europa entwickelt die Hochschule Luzern derzeit einfach bedienbare und zuverlässige Assistenzsysteme, die sich den Bedürfnissen der Nutzer anpassen und ihre Privatsphäre gewährleisten. 

Die Lösung «AAL4Al» wird auf kommerziell erhältlichen Smart-Home-Geräten basieren, die auf einer neuen Plattform zusammengefasst werden, um den Nutzen zu erweitern. Das neue System lernt mit Künstlicher Intelligenz und Machine Learning den Tagesablauf der älteren Person kennen. 
Wenn die Aktivitäten des täglichen Lebens plötzlich stark vom üblichen Muster abweichen, kann eine angehörige Person informiert werden, so dass diese nachfragen kann, ob Hilfe benötigt wird. Durch den Einsatz von KI wird die Anzahl falscher Meldungen gegenüber nicht-lernenden Systemen stark reduziert. Das modular aufgebaute System wird mit handelsüblichen Smartphones oder Tablets bedient.

Gesellschaftsstrukturen und Lebensentwürfe ändern sich – und damit die Wohnformen. Oder ist es (auch) umgekehrt?
Nachfrage und Angebot haben eine Wechselwirkung: Eine veränderte Nachfrage führt zu einem passenden Angebot. Gleichzeitig führen zum Beispiel neue Wohnkonzepte zu einem veränderten Verhalten. Das gehört bei Immobilienentwicklern zum 1x1. Im Moment ändert sich sehr viel. Die Entwicklung verläuft ähnlich wie bei der Mobilität: Bis anhin galt beim Auto «one size fits all», vor allem bei der Familiengründung. Es muss Platz für Einkäufe und für die ganze Familie inklusive Gepäck haben, und für die Ferien in den Bergen braucht es einen Allrad-Antrieb. Deshalb sind Autos so gross und teuer geworden. Heute geht der Trend dahin, dass nicht ein Produkt alle möglichen Funktionen abdecken muss. Es reicht, den Grundbedarf abzudecken und bei Bedarf etwas anderes zu buchen – zum Beispiel einen Lieferwagen.

Beim Wohnen ist es ähnlich: Viele bleiben im Haus wohnen, wenn die Kinder ausgezogen sind, und bleiben in der Struktur gebunden. Man geht davon aus, dass «immer alles gleichbleibt». Kommen zu Weihnachten alle drei Kinder zu Besuch, so können sie weiterhin in ihren Zimmern logieren. Das ist grundsätzlich wunderbar und wenn das jemand möchte, ist nichts dagegen einzuwenden. Doch die Ansprüche und Bedürfnisse ändern sich, was für ein flexibleres Wohnraumkonzept spricht: Ich nenne es die «Lebensabschnittswohnung». In jeder Lebensphase hat man den passenden Wohnraum, von der Studentenbude oder WG über das Familienheim bis zur altersgerechten Wohnung. Auch hier können Zusatzfunktionen «dazugebucht» werden. So wohnen besagte drei Kinder eben in einer Pension statt im Elternhaus. Und wer ein Arbeitszimmer braucht, kann sich in einem Coworking-Space einmieten.


Welche konkreten Wohnformen werden wir in Zukunft sehen?
Die Vielfalt an Lebensentwürfen und damit der Wohnformen wird zunehmen. In besonders starkem Ausmass werden wir das beim altersgerechten Wohnen sehen, aus demografischen Gründen ein grosses Thema. Die Leute wollen bis ins hohe Alter selbstbestimmt leben. Doch erst mit 60 merken sie, dass sie alt werden. Wir müssen uns rechtzeitig damit auseinandersetzen, wie wir im Alter leben wollen – in der Wohnung bleiben? In einer WG wohnen? Ein anderes Experimentierfeld sind alternative, genossenschaftliche Wohnformen. Ein gemeinsames Ziel und gemeinsame Unternehmungen stehen hier im Zentrum, meist in der Stadt, in Form von Aussteiger-Kommunen aber auch auf dem Land. Über solche Wohnformen wird zwar häufig berichtet, doch ich glaube nicht, dass sich dafür viele Leute interessieren. Eher könnte Wohnen ein Markenthema werden, ähnlich wie Starbucks: An jedem Ort gibt es Wohnungen des gleichen Anbieters. Der Vorteil für die Kunden: Ich weiss, was ich bekomme – weltweit. So genannte «Serviced Appartements» bieten hohen Komfort. Dieser entsteht durch eine unkomplizierte Nutzung der Immobilie – zum Beispiel durch Online-Check-in – und durch Angebote wie Wasch- und Bügelservice.

INFO

DIGITALE NOMADEN: STÄNDIG UNTERWEGS STATT ZUHAUSE

Als digitale Nomaden werden Menschen bezeichnet, die ihre Arbeit vollständig online ausüben können. Damit sind sie an keinen festen Standort gebunden und können ihre Arbeit mit Reisen verbinden. Sie leben also eine ganz besondere «Wohnform» – nämlich gar keine. Zwar haben einige digitale Nomaden einen festen Wohnsitz als «Basis», doch andere reisen ständig umher und leben an verschiedenen Orten auf der Welt. Dabei nutzen sie gerne spezielle Coliving- und Coworking-Angebote, in der Schweiz zum Beispiel die Plattform coliving-switzerland.ch. Hier finden die Reisenden geteilten Wohn- und Arbeitsraum, der auf ihre spezifischen Bedürfnisse zugeschnitten ist und wo sie auf Gleichgesinnte treffen.

Wie wird sich die Digitalisierung in den nächsten Jahrzehnten aufs Wohnen auswirken?
Man wird sich daran gewöhnen, dass es zum Öffnen der Haustür keinen Schlüssel mehr braucht – ähnlich wie beim Auto. Alles wird über ein digitales Gerät laufen, im Moment das Smartphone, das zum persönlichen Assistenten wird. Die heutigen Smart Homes sind noch zu kompliziert. Ich will nicht mit dem Kühlschrank, der Heizung und dem Backofen sprechen, sondern ich will, dass mein Phone alles für mich erledigt. Die Lösung wird eine für alle Geräte nutzbare App sein, nicht einzelne Programme von Herstellern. Tropft zum Beispiel der Wasserhahn, bietet mein Device den Handwerker auf oder repariert es am besten selbst – das Schweizer Offiziers-Smartphone sozusagen (lacht). Noch gibt es aber wenig Bereitschaft, sich unter die Knute eines einzigen Tech-Unternehmens wie Apple oder Samsung zu begeben. Die Skepsis ist vor allem bei der älteren Generation gross; das Jungvolk ist gegenüber neuen Ansätzen offener.