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Energiewende: Ja! doch wie?

Elektrizität soll künftig CO2-neutral sein, gleichzeitig Umgang. Die politische Agenda wirft Fragen auf.

Text — Raphael Hegglin

 

Jederzeit ausreichend Strom zu haben, ist nicht selbstverständlich. Das zeigte sich in den vergangenen Monaten deutlicher denn je. Bislang war es oberstes Ziel, Energie – allen voran die elektrische – möglichst bald CO2-neutral und ohne Atomkraftwerke zu produzieren. Doch die Dinge haben sich geändert: Weltweit spitzt sich der Mangel an Rohstoffen zu, Konflikte blockieren eine nachhaltige Entwicklung – eine Energiekrise zeichnet sich ab.

Dabei hatte alles hoffnungsvoll angefangen: Im Jahr 2017 sagte das Schweizer Stimmvolk «Ja» zur Energiestrategie 2050 des Bundes. Deren wichtigste Ziele sind bis heute der Ausstieg aus der Kernkraft, die Förderung von erneuerbaren Energien und die Steigerung der Energieeffizienz.

 

STEIGT ODER SINKT DER STROMVERBRAUCH?

Die Elektrizität hat in der Energiestrategie 2050 einen hohen Stellenwert. Sie soll bis spätestens 2050 nur noch CO2-neutral produziert werden und gleichzeitig die fossilen Energieträger zu grossen Teilen ersetzen. Sprich: Wir sollen künftig auch mit Strom fahren und (zu grossen Teilen) mittels Wärmepumpen heizen. Gleichzeitig muss laut Zielwert der Stromverbrauch sinken: Bezogen aufs Jahr 2000 bis 2035 um 13 %, danach bis 2050 um weitere 5 %.

Diverse Prognosen zeichnen ein ganz anderes Bild. So rechnet die Beraterfirma McKinsey im Extremfall damit, dass sich der Strombedarf bis 2050 verdoppeln wird – hierzulande von 60 TWh auf jährlich etwa 120 TWh. Treibende Faktoren dafür sind die Elektromobilität, das Heizen mittels Wärmepumpe, die Digitalisierung und das Bevölkerungswachstum. So sagt das Bundesamt für Statistik voraus, dass wir im Jahr 2040 die 10-Millionen-Einwohner-Marke knacken werden.

 

WOHER KOMMT DER STROM IM WINTER?

Auch der Umstieg auf umweltfreundliche Energieträger wirft Fragen auf, die bis heute nicht geklärt sind. Grosse Hoffnungsträgerin ist die Photovoltaik. Der Anteil an Solarstrom im Schweizer Strommix konnte auf knapp 5 Prozent wachsen. Modellrechnungen beziffern das ausschöpfbare Potenzial für Solarstrom mit rund 70 TWh, wenn alle in Frage kommenden Gebäudedächer und Fassaden mit Solarzellen versehen werden. Hinzu kommt der Strom aus Wasserkraft, der heute 37 TWh/Jahr beträgt.

Trifft das düstere Szenarium von McKinsey ein, dann bliebe im Jahr 2050 eine Stromlücke von etwa 10 TWh – sofern das Solarstrompotenzial voll ausgeschöpft werden kann. Lässt sich die Energieeffizienz zudem weiter steigern, und der Stromverbrauch bleibt unter den eher pessimistischen Wachstumsprognosen, dann könnte der Strom aus Sonnen- und Wasserkraft ausreichen. Allerdings nur auf dem Papier: Die Produktion an Solarstrom ist im Winter bis zu viermal kleiner als im Sommer. Was buchhalterisch aufgeht, mündet in Realität also in einer grossen Stromlücke im Winter.

 

INFO

EINE POSITIVE BILANZ REICHT NICHT

Wer übers Jahr gerechnet mehr Geld verdient, als er oder sie ausgibt, muss sich materiell keine Sorgen machen. Die Überschüsse landen auf dem Sparkonto, in Fonds oder werden ins Eigenheim investiert. Bei elektrischem Strom funktioniert das leider nicht. Er ist ein flüchtiges Gut und lässt sich nur schwer speichern. Überschüsse aus der Photovoltaik verpuffen daher zu grossen Teilen und lassen sich nicht in den Winter retten.

Konzepte zur Stromspeicherung gibt es zwar viele, doch sind sie zurzeit nicht ausreichend leistungsfähig. So nehmen Europas Batteriespeicher zusammen etwa so viel Strom auf, wie europaweit in anderthalb Minuten produziert wird (NZZ vom 18.05.22). Bis 2030 könnte sich die Kapazität um das Zehnfache, also auf 15 Minuten, erhöhen – auch dann noch ein Tropfen auf den heissen Stein.

- OHNE WASSERKRAFT GEHT NICHTS: Projekte, bei denen mit überschüssigem Strom Wasserstoff hergestellt wird, sind weitere Hoffnungsträger. Denn mit Wasserstoff lässt sich bei Bedarf wieder Strom und zusätzlich Wärme produzieren. Der Gesamtwirkungsgrad dieses Verfahrens liegt jedoch bei unter 40 %, was bedeutet, dass über die Hälfte des überschüssigen Stroms verloren geht.

Hohes Potenzial haben hierzulande zurzeit eher Speicherkraftwerke (Stauseen). Sie können rund 9 TWh Energie zurückzuhalten, bis 2040 sollen es 11 TWh sein. Baut man Stauseen zusätzlich zu Pumpspeicherkraftwerken aus, dann lässt sich mit ihnen sogar überschüssiger Strom retten. Und zwar, indem man mit ihm Wasser in den Stausee hochpumpt. Dabei gehen zwischen 15 und 25 % des aufgewendeten Stroms verloren.

- SPEICHERUNG KÖNNTE IN ZUKUNFT KLAPPEN: Zahlreiche Systeme zur Stromspeicherung befinden sich zurzeit in der Projektphase, und neue Forschungsergebnisse lassen hoffen. Doch bis zur ausreichenden Stromspeicherung ist es noch ein weiter Weg.

Damit es bei uns kurz- und mittelfristig keine Stromlücken – und im schlimmsten Fall Blackouts – gibt, braucht es daher schnell einschaltbare Kraftwerke. Deren Auswahl beschränkt sich momentan auf fossile Kraftwerke und Kernkraftwerke.
 


STROMIMPORTE WERDEN SCHWIERIG

Die Politik hat die Problematik der schwankenden Stromproduktion mittlerweile erkannt. Lange Zeit hoffte man, bei Strommangel Elektrizität aus dem Ausland importieren zu können. So produzieren Deutschlands Windkraftanlagen – momentan – im Winter Überschüsse, und Frankreich möchte in den nächsten Jahren 14 weitere Atomkraftwerke bauen. Doch die Beziehung zwischen der Schweiz und der EU hat sich mit der Scheitern des Rahmenabkommens abgekühlt; ein Stromabkommen kam ebenfalls nicht zustande. Erschwerend kommt hinzu, dass viele europäische Länder ebenfalls mit schwankender Stromproduktion und drohenden Mängeln zu kämpfen haben. Ob die Schweiz dereinst bei Bedarf ausreichend Strom aus dem Ausland beziehen kann, ist fragwürdig.

 

SCHNELL EINSETZBARE KRAFTWERKE ERFORDERLICH

Für kurze Zeit lag die Hoffnung auf Gaskraftwerken. Sie lassen sich vergleichsweise schnell bauen und sofort einschalten, wenn eine Stromlücke droht. Auch lässt sich Gas mit geringem technischen Aufwand in grossen Mengen speichern. Zwar sind Gaskraftwerke alles andere als CO2-neutral, Bundesrätin Simonetta Sommaruga präsentierte sie Anfang Jahr jedoch als pragmatische und realisierbare Temporär-Lösung. Mit dem Ausbruch des Ukraine-Krieges ist sie eher unrealistisch geworden.

Dass eine Stromlücke droht, räumt nun selbst der Bundesrat ein. Doch wie sich diese kurz- und auch langfristig verhindern lässt, ist unklar. Eines jedoch ist sicher: Es besteht dringend Planungs- und Handlungsbedarf. Denn der Bau von Kraftwerken, die je nach Bedarf und nicht vom Wetter abhängig Strom liefern können, erfordert Zeit.